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Queere Lindy Hopper der Harlem Renaissance - Warum wir nie etwas über LGBTQ*-Tänzer*innen aus der Geschichte hören

Trotz gesellschaftlichen Drucks und gesetzlicher Einschränkungen herrschte in Harlem in den 1920er und 1930er Jahren eine lebendige und sichtbare queere Welt vor, die die Kultur der Ära maßgeblich beeinflusste und an ihr teilhatte.1vgl. Riemer & Brown, S. 56; für eine gut aufbereitete Einführung in Ikonen der queeren Harlem Renaissance empfehle ich Johnsons Flamboyants. The Queer Harlem Renaissance I Wish I’d Known Während wir regelmäßig Tänzer*innen wie Frankie Manning und Norma Miller würdigen, heben wir nie LGBTQ+-Tänzer*innen hervor.2Manche Autoren erwähnen Tänzer*innen wie Leon James und Al Minns, die Gerüchten zufolge möglicherweise queer waren (Fürnkranz, p. 43); hierfür scheint es aber kaum Nachweise zu geben. Auch wenn wir vielleicht nie einen berühmten queeren Lindy Hopper aus dieser Zeit finden werden, zeigen historische Beweise und Historiker*innen, dass queere Menschen aktiv an der Gestaltung einer sozialen Tanzszene beteiligt waren, insbesondere in privaten und halböffentlichen Räumen.

queere Lindy Hopper

Dieser Mangel an historischer Sichtbarkeit ist nicht nur ein Problem, das uns in der Geschichte des Lindy Hop begegnet; es ist ein Spiegelbild dessen, wie wir das queere Leben vor Stonewall oft wahrnehmen. Obwohl wir die Stonewall-Aufstände häufig als „den Beginn der LGBT-Bewegung“ betrachten, argumentieren einige Historiker*innen heutzutage, dass sie eher als „der Katalysator für eine neue Welle der radikalen Militanz in der [queeren]3Wie Riemer und Brown in ihrem Buch We are Everywhere feststellen: „Professor Chaunceys grundlegendes Werk, Gay New York, konzentriert sich fast ausschließlich auf das, was er als die ‚schwule männliche Welt‘ bezeichnete; Leser*innen mögen Einwände gegen unsere Neuformulierung von Chaunceys Arbeit haben, um queere Menschen anstelle von nur schwulen Männern einzuschließen. Bitte beachten Sie, dass wir Chaunceys Analyse nicht universell auf andere Gemeinschaften anwenden, obwohl wir dies unter bestimmten Umständen tun. Am wichtigsten ist, dass wir trans Leben identifizieren, wenn die Beweislage dies rechtfertigt, während Historiker*innen früherer Generationen – oder sogar noch vor wenigen Jahren – möglicherweise weniger dazu geneigt waren, trans Individuen oder -Gemeinschaften zu identifizieren. Es besteht für uns kein Zweifel, dass einige, wenn nicht sogar viele, der von Professor Chauncey für Gay New York erschöpfend erforschten ‚fairies‘ keine Männer waren, die ‚die weibliche Rolle annahmen‘; sie waren vielmehr Frauen, geboren vor der Sprache, dem kulturellen Umfeld und/oder den medizinischen Möglichkeiten, ihr biologisches Geschlecht und ihre Geschlechtsidentität anzugleichen.“ (S. 331) Politik“4Chauncey, S. xvi gesehen werden sollten. Aber auch davor gab es bereits queeres Organisieren und Handeln:

„Trotz unseres verbreiteten Eindrucks vom queeren Leben ‚vor Stonewall‘ – einer Welt einsamer, isolierter, sich selbst hassender Individuen, deren kollektives Los sich nur mit der Zeit verbesserte – führten viele queere Menschen im frühen zwanzigsten Jahrhundert ein erfülltes Leben als queere Menschen; obwohl sie vorsichtig sein mussten, bauten sie dennoch ‚Sphären relativer kultureller Autonomie‘ auf, wie Professor George Chauncey es beschreibt. Vor 1950 sprachen queere Menschen beispielsweise nicht von einem coming out aus einer einschränkenden, isolierten Welt; stattdessen war es ein coming in, hinein eine weite schwule Welt.“5Riemer & Brown, S. 54

Queeres Leben während der Harlem Renaissance

Die Sprache, mit der man über das queere Leben während der Harlem Renaissance sprach, unterschied sich von unserer heutigen. Das Verständnis von Sexualität war in den 1920er und 1930er Jahren zutiefst anders: Während wir Sexualität heute in unterschiedliche Identitäten wie homosexuell, heterosexuell oder bisexuell einteilen, wurden die Menschen in den 1920er und 1930er Jahren oft eher aufgrund von Geschlechtsnonkonformität als nur aufgrund ihres sexuellen Verhaltens als „queer“ bezeichnet.6Chauncey, S. 13 Dies spiegelt sich in den Wörtern wider, die verwendet wurden, um über queere Menschen zu sprechen: Einige Lesben, die maskuliner erschienen, wurden als „bulldykes“ und „bulldaggers“ bezeichnet,7Der Begriff „bulldagger“ bezieht sich fast immer auf Afroamerikanerinnen. Obwohl er als abfälliger Begriff verwendet wurde, wurde er auch „im zwanzigsten Jahrhundert als Ehrentitel zurückerobert, von der Bluessängerin Bessie Jackson (1897-1948) in ihrem Lied ‚B-D Woman‘ von 1935 und von SDiane A. Bogus und Judy Grahn, die die ‚bulldagger‘ als mutige und stolze Widerstandskämpferin gegen Unterdrückung und als eine wesentliche Verbindung feiern, wie Bogus (1994) bekräftigt, zur ‚alten und jüngeren schwarzen-Frauen-liebenden Vergangenheit‘. Sie ist ein Symbol schwarzer weiblicher Souveränität, mythisch verbunden mit den Amazonen von Dahomey und Königin Califia, der Namensgeberin von Kalifornien.“ (Caputi, S. 136) während schwule Männer, die femininer erschienen, „pansies“, „fairies“ und „fags“ genannt wurden.8Wilson, S. 21. Die Begriffe „bulldagger“, „pansy“ und „fairy“ wurden, unter anderem, oft von der dominanten Gesellschaft als Schimpfwörter verwendet, um Individuen, die Geschlechtsnormen überschritten, herabzusetzen. Innerhalb der queeren Gemeinschaften der Harlem Renaissance wurden jedoch einige dieser Begriffe zurückerobert und als eine Form der Selbstidentifikation und Solidarität genutzt (siehe z.B. Caputi, S. 136; Madden, S. 515). Diese zweifache Verwendung spiegelt ein verbreitetes historisches Muster wider, bei dem marginalisierte Gruppen die gegen sie verwendete Sprache anpassen und neu nutzen. Das Wort „queer“ selbst hat eine ähnliche Transformation durchlaufen und sich von einem historischen Schimpfwort zu einem weithin genutzten und zurückeroberten Begriff innerhalb der heutigen LGBTQ+-Gemeinschaften gewandelt.

Queere Menschen, die nicht den geschlechtsübergreifenden Stereotypen entsprachen, wurden oft durch „die Unwissenheit der heterosexuellen Welt“9Chauncey, S. 103 vor Diskriminierung geschützt: „Männer und Frauen, die nicht in diese Kategorien fielen, konnten viel eher mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen experimentieren oder dauerhafte Partnerschaften eingehen, ohne entdeckt zu werden“10Wilson, S. 21

Neben Greenwich Village wurde Harlem von vielen als „das aufregendste Zentrum des schwulen Lebens“ angesehen.11Chauncey, S. 227. Das bedeutet nicht, dass Harlem in den 1920er Jahren als schwules Viertel bezeichnet werden konnte, aber die Entstehung einer queeren Gemeinschaft war überhaupt möglich (vgl. Chauncey, S. 228). Es war „der einzige Ort, an dem Schwarze schwule Männer in kommerziellen Lokalen zusammenkommen konnten, und sie waren zentral in vielen Strömungen der Harlemer Kultur involviert“.12Chauncey, S. 227

Diese queere Präsenz in Harlem muss in einem intersektionalen Kontext verstanden werden.13Intersektionalität ist ein Rahmenkonzept, um zu verstehen, wie verschiedene soziale und politische Identitäten – wie ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Klasse und sexuelle Orientierung – zusammenwirken, um einzigartige Erfahrungen von Diskriminierung und Privileg zu schaffen. Es erkennt an, dass diese Identitäten nicht unabhängig voneinander existieren; sie überschneiden sich und beeinflussen sich gegenseitig, wodurch die gelebte Realität einer Person auf eine Weise geprägt wird, die nicht durch die Betrachtung einer einzelnen Identität allein erklärt werden kann. In diesem Kontext war das Finden von geschützten Räumen nicht nur ein Akt sexueller Selbstbestimmung, sondern auch eine Bestätigung der eigenen Identität. Die von der Gemeinschaft geschaffenen sicheren Räume waren nicht nur zum Tanzen oder Daten; sie waren Akte des Widerstands gegen mehrere Ebenen der Unterdrückung. Viele dieser Räume wurden von Musiker*innen, Clubbesitzer*innen und Künstler*innen genährt, die selbst queer waren und Umgebungen schufen, in denen sowohl sich Musik als auch Tanz auf eine Weise entfalteten, die untrennbar mit dem queeren Schwarzen Leben verbunden war.

Private und halbprivate Treffen wurden zu lebenswichtigen Zufluchtsorten, an denen sich queere Schwarze Individuen ohne den Blick oder die Kontrolle der weißen Gesellschaft ausdrücken konnten.

Im Schatten tanzen: Private Partys und Rent Parties

• Ein Theaterstück von Wallace Thurman aus dem Jahr 1929, aufgeführt im Billy Rose Theatre, enthielt eine Szene mit einer Rent Party. (NY Times)

In den 1920er und 30er Jahren schienen insbesondere private Partys ein wichtiger Eckpfeiler des queeren Soziallebens zu sein14Chauncey, S. 278; sie waren „der sicherste Weg für Lesben und Schwule, sich zu treffen, zu singen, zu tanzen und reichlich illegal gebrannten Alkohol zu trinken“.15Wilson, S. 64 Während einige davon Zusammenkünfte waren, die für Freund*innen veranstaltet wurden, hatten andere ein ganz anderes Ziel: sogenannte Rent Parties (Miet-Partys) wurden zu einem lebendigen Teil der Harlemer Kultur. Diese Partys wurden veranstaltet, um den Bewohner*innen zu helfen, die Miete zu zahlen, nachdem weiße Vermieter die Preise auf exorbitante Niveaus erhöht hatten. Die Gäste wurden um eine kleine Eintrittsgebühr gebeten, und Essen sowie illegal gebrannter Alkohol wurden gegen Aufpreis verkauft. Woolner erwähnt, dass Rent Parties „anfangs meist von Frauen organisiert wurden, von denen einige ehemalige (oder aktuelle) Bordellbetreiberinnen oder Entertainerinnen waren“.16Woolner, S. 166

Einladungen zu Rent Parties (NY Times)
Mabel Hampton. Klicke auf das Bild, um ihr in einem Interview zuzuhören, wie sie über Partys in den 1930er Jahren spricht (Lesbian Herstory Archives AudioVisual Collections).

Die Partys wurden schnell zu „einer der farbenfrohsten Institutionen Harlems“17Thurman, S. 287, so ein Bericht aus dieser Zeit. Diese Veranstaltungen reichten von kleinen, nur mit Einladung zugänglichen Treffen bis hin zu riesigen, regelmäßig stattfindenden Events, die feste Termine im queeren sozialen Kalender waren.18Chauncey, S. 279 Ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 1926 beschrieb die lebendige Atmosphäre: „Alkohol zweifelhafter Herkunft kann beim nächsten Feinkosthändler besorgt werden, und unter seinem belebenden Einfluss können sich die Gäste den energischen Tanzbewegungen des Tages hingeben, bis der Boden zu brechen droht oder die Nachbarn die Polizei rufen.“19„A Rent Party Tragedy“, New York Age, 11. Dezember 1926, zitiert in Woolner

Es scheint, dass für viele queere Menschen das Tanzen hauptsächlich bei privaten Veranstaltungen wie Rent Parties möglich war – diese waren verständlicherweise viel weniger reguliert als kommerzielle Institutionen, die „sich Sorgen um polizeiliche Überwachung machten“20Chauncey, S. 278 und daher „geschützte Räume für Lesben, Bisexuelle und Schwule boten, um sich zu treffen und auszutauschen“.21Wilson, S. 31 Für Schwarze Frauen – insbesondere lesbische und bisexuelle Künstlerinnen – boten diese Räume eine Möglichkeit, sich über sowohl patriarchalen als auch rassistischen Zwängen hinwegzusetzen, was ihnen eine Freiheit in Kleidung, Bewegung, Sprache und Intimität ermöglichte.22vgl. Woolner, S. 153, 155, 177

Ethel Waters, eine lesbische23Woolner, p.41 Jazz- und Blues-Sängerin aus den 1920er Jahren, bezieht sich in ihrer Version von Underneath the Harlem Moon auf Rent Parties.

Es gibt nur wenige direkte Berichte, teilweise wegen der beabsichtigten Geheimhaltung einiger der privateren Partys.24Wilson, S. 65 Chauncey zitiert schwule Männer, die über eine Rent Party sprechen, gefolgt von einer „zweiten, intimeren Party […], bei der Männer sich küssen und zu langsamer Musik tanzen konnten“.25Chauncey, S. 279

Wilson zitiert Mabel Hampton, die über eine andere private Party spricht:

„Die bulldykers kamen und brachten ihre Frauen mit. Und man sollte sich nicht mit ihnen anlegen, wisst ihr. Sie tanzten wie die Verrückten. Sie machten den Charleston, sie machten ein bisschen von allem. Es waren alles Schwarze Frauen. Manchmal trafen wir jemanden, der eine weiße Frau dabeihatte. Aber ich, ich habe mich mit jedem von ihnen vergnügt. Ich hatte einfach eine tolle Zeit.“26Wilson, S. 31

Wallace Thurman, ein queerer Autor der damaligen Zeit, sagte über das Tanzen bei einer typischen Rent Party:

„Der ‚mess around‘ ist auch ein Körper-Tanz, und die Paare stehen wie gebannt unter der einsamen roten Kugel, die das Licht spendet; sie wippen auf den Fußballen, während sich die Mitte ihres Körpers immer wieder dreht. Ein anderes Paar macht den ‚fish tail‘, taucht zum Boden hinab und wackelt langsam in eine aufrechte Position, bevor es einen Moment lang wild wirbelt und sich dann in einen methodischen Slow Drag One-Step niederlässt.“27Thurman, S. 287

Sowohl Norma Miller als auch Frankie Manning erwähnen, dass sie den Charleston zuerst auf Rent Parties gelernt haben, die entweder von ihren Müttern veranstaltet oder besucht wurden.28Miller & Jensen, S. 20f; Manning & Millman, S. 25f.

Öffentliche Räume schaffen: Künstler*innen, Speakeasies und Drag Balls

Neben männlichen Stars wie Duke Ellington prägten auch queere Schwarze Frauen die Swing- und Jazz-Szene der damaligen Zeit. Ma Rainey, oft als „Mother of the Blues“ bezeichnet, sang in ihren Texten offen über Beziehungen zu Frauen, 29Carby, S. 475 & 479 und bettete so lesbisches und bisexuelles Begehren Jahrzehnte vor der öffentlichen Akzeptanz in die populäre Musik ein. Tiny Davis, eine Trompeterin und Bandleaderin, war eine herausragende Persönlichkeit im Swing, die später in den 1950er Jahren offen mit ihrer Partnerin Ruby Lucas zusammenlebte. 30Gould Ihre Gruppe, die „International Sweethearts of Rhythm“, wurde zu einem kraftvollen Symbol queerer Präsenz in einer von Männern dominierten Jazz-Welt. Nach der Rückkehr aus den USA schuf Ada „Bricktop“ Smith, eine Sängerin, Tänzerin und legendäre Clubbesitzerin, Orte, an denen Schwarze und queere Menschen willkommen waren, zum Beispiel in Paris und in Mexiko-Stadt. Mit ihrem Bühnencharisma und Geschäftssinn schuf sie Räume, in denen die Schwarze queere Kultur sichtbar, gefeiert und wirtschaftlich nachhaltig sein konnte. 31Bendix Die Existenz von Orten wie Bricktops Club war kein Zufall, sondern das Ergebnis des bewussten Gemeinschaftsaufbaus durch Schwarze queere Frauen, die die Notwendigkeit sicherer, selbstbestimmter Räume sowohl für den künstlerischen Ausdruck als auch für das queere Leben verstanden. 32Bricktop war zum Beispiel eine Unterstützerin (und im Falle der Ersten auch Geliebte) von Josephine Baker (Niven) und Mabel Mercer (Smith).

"Während der letzten Tage der Harlem Renaissance war der Ubangi Club ein berüchtigter Ort für Unterhaltung. Der Club präsentierte schwule afroamerikanische Künstler und Unterhaltung. Es gab eine Hausband (oben) mit Mitgliedern, die sich nicht scheuten, sich in kompromittierende Positionen zueinander zu bringen, während sie für das Publikum spielten, es gab einen sepiafarbenen Chor von Drag-Künstlern, und dann gab es die legendäre Gladys Bentley, deren anzügliche Liedtexte oft von 'sechs Männern mit einem Hauch von Lavendel' begleitet wurden." (flickr.com, Trent Kelly)
Ausschnitt aus "A Night-Club Map of Harlem" (1932), der Gladys Bentley erwähnt

Einige Künstler*innen brachen bewusst mit traditionellen Geschlechternormen. Es gab sogenannte „female impersonators“33Garber, S. 324, ähnlich dem, was wir heute als Drag Queens verstehen würden. Gladys Bentley, „eine bekennende ‚bulldagger‘“34Wilson, S. 210, war nicht nur für ihre anzüglichen Lieder und ihre musikalische Begabung bekannt, sondern auch für ihre männliche Kleidung. Sie heiratete sogar eine weiße Frau „in einer sehr öffentlichkeitswirksamen Zivilzeremonie in New Jersey“35Wilson, S. 210.

Während Künstler*innen wie Bentley Erfolg haben konnten, war die Erfahrung für andere Gäste in öffentlichen Lokalen oft komplexer: Queere Gäste konnten nicht immer sie selbst sein36Woolner, S. 137, und diese Räume waren manchmal auch für die Schwarze Arbeiterklasse unzugänglich.37Wilson, S. 37 

Obwohl das queere Sozialleben schwule Männer und Lesben oft in getrennte Kreise unterteilte, dienten gewisse halböffentliche Räume wie Speakeasies (wörtlich: „Flüsterkneipen“; illegal betriebene Lokale, in denen Alkohol ausgeschenkt wurde. Sie waren eine Antwort auf das bundesweite Alkoholverbot) und Drag Balls als entscheidende Treffpunkte.38Chauncey, S. 228 Inwieweit Gäste in Harlemer Speakeasies sichtbar queer sein konnten, ist nicht eindeutig geklärt in der Sekundärliteratur; Woolner verweist jedoch auf den Bericht eines Ermittlers über ein Speakeasy, in dem „acht farbige Frauen […], alle betrunken, […] untereinander tanzten, exzentrische Tänze und Paartänze machten“.39Woolner, S. 175

Ein anderer Bericht über ein Speakeasy erwähnt eine ähnliche Szene:

Eines späten Abends im Mai 1928 [wurde ein] Schwarzer Ermittler […] in ein Speakeasy […] gebracht, wo er Lesben und Schwule beobachtete, die mit einer größeren Anzahl heterosexueller Menschen zusammen waren. Im vorderen Raum saßen Männer und Frauen herum, tranken, redeten und lachten, aber in einem hinteren Raum tanzte eine größere Gruppe von Menschen: „Eine andere Frau tanzte auf unanständige Weise mit einem Mann. … Mehrere der Männer tanzten untereinander. Zwei der Frauen tanzten miteinander und machten Bewegungen, die den Geschlechtsverkehr nachahmten. Einer der Männer [lud mich zum Tanzen ein]. Ich lehnte ab. Ich sah auch, wie zwei Männer, die miteinander tanzten, sich küssten und einer dem anderen die Zunge in den Mund steckte.“40Chauncey, S. 248

Eines der sichtbarsten Zeichen des queeren Lebens waren die Harlemer Drag Balls (siehe Bilder unten), die „Menschen aus der ganzen Region anzogen, in Europa bekannt waren und sich als Teil einer Tradition solcher Bälle verstanden, die im späten neunzehnten Jahrhundert begann und bis in die 1930er Jahre reichte“41Chauncey, S. xvii. Das bekanteste dieser Events war der Hamilton Lodge Ball, „das größte jährliche Treffen von Lesben und Schwulen in Harlem“42Chauncey, S. 257 und in ganz New York City. Drag Balls waren Veranstaltungen, „bei denen schwule Männer Frauenkleidung trugen und miteinander tanzten“.43Chauncey, S. 291 Auch der Savoy Ballroom veranstaltete Drag Balls.44Chauncey, S. 294

Es scheint, dass es später bei den Drag Balls auch gleichgeschlechtliches Tanzen gab, wobei ein Bericht sogar explizit den Lindy Hop erwähnt:

„Die Zurschaustellung des Verlockenden, des Stilvollen und des Außergewöhnlichen war ein Hauptzweck (und eine Attraktion) der Veranstaltung, und der Höhepunkt des Abends war die ‚Parade der Pansies‘, die dem Wettbewerb vorausging. Laut einem Bericht begann der ‚Schönheitswettbewerb‘ um 1:45 Uhr morgens. Sich verbeugend, Kusshände werfend, am ‚snake-hipping‘ oder Lindy-Hop tanzend, je nachdem, wie ihnen die Stimmung dazu stand, schritten fast 100 der aufwendiger kostümierten Imitatoren über eine erhöhte Plattform und buhlten um die Gunst des Publikums und der Juroren. Aus dieser Gruppe wurden zwanzig Halbfinalisten ausgewählt.“45Wilson, S. 122f

Allerdings durften „die Organisator*innen der Drag Balls Männer nur dann miteinander tanzen lassen, [wenn] einer (oder beide) ein Kleid trugen; sobald  beide Hosen trugen, konnte die Polizei die Veranstalter zwingen, sie zu stoppen“.46Chauncey, S. 295 Im Allgemeinen wurde gleichgeschlechtliches Tanzen von der Polizei oft als ungebührliches Verhalten definiert47Chauncey, S. 173 und war daher in öffentlichen Räumen weniger häufig anzutreffen.

Herausforderungen und wandelnde Zeiten: Die Gegenreaktion der 1930er

Eine höhere queere Sichtbarkeit sollte dennoch nicht als Akzeptanz oder Sicherheit missverstanden werden.48Riemer & Brown, S. 58; Chauncey, S. 253; Johnson („Ich denke, eine widerwillige Toleranz beschreibt besser, was queere Menschen in dieser Zeit erlebten.“) Einer der berühmtesten afroamerikanischen Geistlichen, Adam Clayton Powell, startete 1929 mehrere Angriffe auf Homosexualität und verurteilte sie als etwas „unmoralisches“.49Chauncey, S. 254f Wilson schreibt, dass „Lesben und Schwule auf private Partys als sichere Räume vor potenziellen persönlichen und beruflichen Skandalen und vor Strafverfolgung angewiesen waren“,50Wilson, S. 24; dass viele der queeren Schwarzen männlichen Verfechter der Harlem Renaissance in Literatur und Philosophie nie öffentlich ihre Homosexualität bekannt gaben, erscheint in diesem Kontext wenig überraschend.51Siehe z.B. Johnson über Langston Hughes („Ich kann mir nur vorstellen, dass Langston, der zu einem Führer in der Harlem Renaissance wurde, sich nie sicher genug fühlte, um öffentlich queer zu sein. Es gab Gründe – sowohl interne als auch externe –, die seine Entscheidung beeinflussten, seine Sexualität zu verschleiern.“) Darüber hinaus gab es Gesetze, die „nicht nur das eng gefasste ‚sexuelle‘ Verhalten von schwulen Männern kriminalisierten, sondern auch ihre Assoziation miteinander, ihre kulturellen Stile und ihre Bemühungen, sich zu organisieren und für sich selbst zu sprechen“.52Chauncey, S. 2 Diese Gesetze wurden jedoch nur unregelmäßig durchgesetzt, und „Gleichgültigkeit oder Neugier – und nicht Feindseligkeit oder Angst – kennzeichnete die Reaktion vieler New Yorker auf die schwule Welt über weite Teile des halben Jahrhunderts vor dem Krieg“.53Chauncey, S. 2 Diese Neugier lässt sich an der Menge an Presseartikeln erkennen, die damals über Drag Balls und queere Partys veröffentlicht wurden,54Wilson, S. 24 aber auch an der Menge an weißen Menschen, die nach Harlem kamen, um das Nachtleben zu erleben, über das sie in Büchern gelesen hatten.55Hughes, S. 176; Garber, S. 328 Diese relative Gleichgültigkeit sollte jedoch nicht andauern. Das kulturelle Klima begann sich nur wenige Jahre später drastisch zu ändern.

Genau in dem Moment, als Lindy Hop in den USA mehr Aufmerksamkeit erregte, wurde die queere Kultur von Mitte der 1930er bis in die 1950er Jahre gezwungen, sich zu verstecken.56Chauncey, S. 8 Das beendete das queere Leben nicht,57Garber, S. 331 aber es „wurde in den Straßen und Zeitungen von New York weniger sichtbar“:58Chauncey, S. 9

„Während die Prohibition eine wichtige Rolle bei der Erhöhung der Sichtbarkeit queerer städtischer Identitäten gespielt hatte, trug die Große Depression dazu bei, eine Revolte gegen das schwule Leben in den 1930er Jahren auszulösen. Dies stand in Zusammenhang mit der neuen Krise in den Geschlechterarrangements, als ‚entmannte‘ Männer ihre Arbeitsplätze und ihren Status als Haushaltsversorger verloren, und der Aufhebung der Prohibition 1933, die in vielen Städten durch neue Beschränkungen für queere Nachtleben-Räume ersetzt wurde.“59Woolner, S. 201

Drag Balls, einst ein Leuchtturm des queeren Soziallebens, fanden nicht mehr statt: „Die Hamilton Lodge Drag Balls, eine Harlemer Tradition seit den 1870er Jahren, endeten abrupt im Jahr 1939, nachdem eine Welle der Panik über Sexualverbrechen die Nation erfasste und die Wahrnehmung von Homosexuellen von albernen Kuriositäten und sexuellen Degenerierten zu gefährlichen Psychopathen wandelte.“60Wilson, S. 256

Auszug aus einem Artikel in Ebony, den Gladys Bentley in den 1950er Jahren schrieb

„Was einst als progressiv, schockierend oder tabu galt, wurde mit der Zerstörung der amerikanischen Gesellschaft in Verbindung gebracht und als eine Frage der nationalen Sicherheit angesehen. Lesben und Schwule, die in den frühen Jahrzehnten des Jahrhunderts ziemlich sichtbar gewesen waren, schlüpften wieder ‚in the closet‘ oder erklärten eine Änderung ihrer sexuellen Orientierung.“61Wilson, S. 257 Gladys Bentley ist ein perfektes Beispiel dafür: „In ihren späteren Jahren legte sie ihren charakteristischen Smoking ab, behauptete, aus Port-of-Spain, Trinidad, zu stammen – obwohl sie in Philadelphia geboren und aufgewachsen war – und trug Blumen im Haar, Kleider und Perlen, während sie Jazz- und Blues-Standards sang.“62Wilson, S. 211

Diese Gegenreaktion, zusätzlich zu all den Herausforderungen, die bereits im Harlem der 1920er/frühen 1930er Jahre offensichtlich waren, ist wahrscheinlich der Grund, warum wir nie etwas über queere Lindy Hopper hören.63

Wie bereits erwähnt, bedeutet dies nicht, dass das queere Leben, und insbesondere das Tanzen, einfach aufhörte, wie dieses Zitat über eine Lesbenbar in Buffalo, NY, zeigt:

„Sie machten so viele verschiedene [Tänze], dass ich mich nicht mehr an alle Namen erinnern kann. Ich versuche es trotzdem. Sie machten einen Double-Time-Step, der dem Lindy ähnlich ist… Was zum Teufel sind die anderen Sachen? Ich glaube, sie nannten es den Big Apple oder verrückte Namen… und den Shag… Ich glaube, das war es, was mich wirklich packte, als ich die Tänze sah. … [Viele] verschiedene kleine Schritte, die [sie] improvisierten, Variationen von Boogie-ähnlichen Dingen.“ (Kennedy & Davis, S. 48)

Fazit: Vermächtnis und anhaltende Relevanz für queere Lindy Hopper heute

Wenn über queere Aspekte der Harlem Renaissance gesprochen wird, konzentrieren sich Autor*innen und Forscher*innen oft auf die Literatur (zum Beispiel Langston Hughes oder Richard Bruce Nugent), auf Künstler*innen (wie Ma Rainey oder Bessie Smith) und manchmal auf Komponisten (Billy Strayhorn) oder Philosophen (Alain Locke).64An dieser Stelle noch einmal eine wärmste Empfehlung für Johnsons Flamboyants. Auch wenn uns einzelne und eigenständige queere Lindy-Hop-Ikonen fehlen, zeigt die Geschichte, dass queere Menschen Teil der sozialen Tanzszene waren, wenn auch oft unsichtbar. Queerness war ein präsenter und sichtbarer Teil des Geburtsortes und des kulturellen Kontextes des Lindy Hop und kann daher als untrennbar mit dem Vermächtnis des Tanzes verbunden angesehen werden.

Anstatt zu versuchen, einzelne (queere) Tänzer*innen zu heroisieren, schlage ich vor, eine umfassendere Perspektive einzunehmen. Lindy Hop wurde nicht nur von ein oder zwei Tänzer*innen geprägt; die Wurzeln des Tanzes waren gemeinschaftlich und vielfältig. Er wurde von Menschen gemacht, nicht nur von berühmten Paaren auf einer Bühne; in privaten Wohnungen, nicht nur in Tanzsälen. Der Geist dieser frühen queeren Tänzer*innen, die sich Freiräume zum Tanzen schufen, ist ein starkes Vermächtnis. Es erinnert uns daran, dass eine wirklich inklusive Tanzszene heute mehr bedeutet, als sich mit bloßer Akzeptanz zufrieden zu stellen, als lediglich zu tolerieren; es bedeutet, aktiv Räume zu schaffen, in denen Menschen ganz sie selbst sein können.

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Queer Lindy Cologne